Donnerstag, 8. Juni 2023

08-04

Gewitter im Mai



Ludwig GANGHOFER
Gewitter im Mai und andere Hochlandgeschichten



München: Droemersche Verlagsanstalt.
 1950 (223 8°)
Ln.. m. SchU

enthält zudem: DIE MÜHLE AM FUNDENSEE, JEROBEAM PURZELBAUM

EA: 1902


Notiz: ".GEWITTER IM MAI. .Im Mai kehrt der junge Poldi zu einem kurzen Urlaub in sein Heimatdorf zurück, nachdem er sich vom Schiffsjungen zum Offizier der Handelsmarine hochgedient und alle Weltmeere befahren hat. Wie die Gewitter im Mai, die oft überraschend und blütenzerstörend niedergehen, so bricht über den Frühlingstraum der beiden jungen Menschen plötzlich mit unentrinnbarer Gewalt ein tragisches Schicksal herein, und alles nimmt einen ganz anderen Verlauf, als der Leser es nach den ersten Kapiteln erwartet hatte. Der Förstner-Poldi verliebt sich ins Dorle, Töchter einer Weberin. Doch die ist ausgerechnet seinem besten Freund, dem Lichtschmied, versprochen. Der will sich sein Glück sichern und Dorle gleich heiraten. Da nimmt in einem Unwetter das Unglück seinen Lauf..". Schon in diesem Roman, einem Frühwerk des Dichters, zeigt Ludwig Ganghofer seine meisterliche Kunst, Faden zu knüpfen und wieder zu entwirren. Es ist kein großer, problematischer Roman; aber ein mit Wärme und tiefem Verständnis für alles Menschliche geschriebenes Buch. "»Gewitter im Mai« gehört nicht zu Ludwig Ganghofers umfangreichsten, wohl aber zu seinen stärksten Büchern. Wenn er bei der Titelsuche für diesen hochdramatischen Stoff nicht so zurückhaltend und bescheiden verfahren wäre, könnte das Buch ebensogut den Titel haben »... und vergib uns unsere Schuld«.
Die Bearbeitung dieses Themas bewegt sich bei Ganghofers außergewöhnlicher Spannweite, vom ganz großen historischen und gesellschaftlichen Entwurf bis zu feinsten Nuancen seelischer Befindlichkeiten, auf der Ebene ebenso präziser wie teilnehmender Beobachtung menschlicher Gefühle. Die Geschichte ist ebenso einfach wie konfliktträchtig. Poldi, ein junger Seemann, kommt nach sieben Jahren harter Ausbildung und schweren Berufslebens zum ersten Mal wieder zurück in sein alpenländisches Gebirgsdorf. Mit sich bringt er die Sehnsucht nach Heimat, Geborgenheit, Zugehörigkeit und nach einer Frau. Denn er beschreibt sich selbst nicht als einen von den hartgesottenen Fahrensleuten, die in jedem Hafen eine andere, womöglich käufliche Liebe haben. Am ersten Abend in der Heimat verliebt er sich »coup de foud-re«, wie durch einen Blitzschlag also, in Dorlc, die ihm wie das Mädchen seiner heimlichen Träume erscheint. Sie erweist sich, inzwischen erwachsen geworden, als das Kind, das er vor acht Jahren am heimatlichen See aus dem Wasser gezogen und vor dem Ertrinken gerettet hat. Aber Dorle ist inzwischen einem anderen versprochen, dem Nagelschmied Dominik, der früher, als Poldi noch zu Hause war, Poldis bester und verschworener Freund war. Die Fäden sind also geknüpft für ein Drama, wie es von der Biblischen Geschichte über das Nibelungenlied bis - ja eben bis zu Ludwig Ganghofer immer wieder in verschiedenster Gestalt zur literarischen Bearbeitung herausgefordert hat. Nicht ohne Grund wählt Ganghofer hierfür die Form einer Novelle, ein Stilform die er besonders in ihrer Ausgestaltung in der französischen Literatur ungewöhnlich geliebt und bewundert hat. Dem entspricht auch das äußere Bild der Darstellung: Keine Aufspaltung der Handlung, keine Kapiteleinteilung, gestraffte Erzählform, geringer Umfang bei stark hervortretendem Grundkonflikt. Die »Neuigkeit«, die von der Kunstform Novelle erwartet wird, tritt dadurch in Erscheinung, daß das Dorf, in dem die Handlung abläuft - aus verschiedenen Gründen wahrscheinlich die Gegend um den Tegernsee, durch das technische Geschick des Nagclschmieds Dominik mit Energie und elektrischem Licht versorgt wird, was dann auch letztlich zu der dramatischen Konfliktlösung beiträgt.
Wir dürfen uns dieses Dorf nicht mehr als eine einsame und rückständige Gcbirgssiedlung vorstellen, wie es sonderbarerweise der zweite nach diesem Stoff gedrehte Kinofilm tut. Ganghofer schrieb die Novelle im Jahr 1902, durchaus in einer für ihn damals »heutigen« Zeit. Es gibt schon Straßenbeleuchtung, eine Turbine, es gibt aufkommenden Tourismus und Fremdenverkehr, eine Eisenbahn und Pläne für Motorbootfahrt auf dem See. Wir lernen dadurch das allgemeine Lebensgefühl um die Jahrhundertwende, das Aufeinanderprallen von Tradition und Fortschritt und die Scheu der Menschen vor unheimlichen Neuerungen kennen. Überzeugend geglückt ist Ganghofer der Wendepunkt seiner Handlung, als das unbeabsichtigte Versäumnis einer einzigen entscheidenden Sekunde die beiden verschworenen Jugendfreunde zu erbitterten Todfeinden werden läßt. So glaubhaft sind diese Empfindungen zum Ausdruck gebracht und geschildert, daß man betroffen meint, solche umstürzenden Gefühle auch selbst schon einmal erlebt und erlitten zu haben. Allein diese Stelle macht Ganghofers Novelle zum Meisterwerk.
Daran ändert es auch nichts, daß die Geschichte einen direkten Bezug zur familiären Realität aufweist. Die Handlung spielt in etwas verfremdeter Szenerie am Tegernsee, und dort dürfte sie auch verfaßt worden sein. Ganghofer hatte einen jüngeren Bruder, der tatsächlich zur See fuhr. Er dürfte die Person dieses Bruders als Entwurf für den Poldi in »Gewitter im Mai« adaptiert und auch seine Erlebnisse und Konflikte mit einbezogen haben. Teile der bau es erst in allerjüngstcr Zeit weichen mußte. Es gilt als sicher, daß Ludwig seinen Bruder dort oft besucht und dabei auch seine eigene Liebe zum Tegernsee entdeckt hat. wo er 1920 sein eigenes Domizil, die »Villa Maria« am Leeberg erwarb. Es ist wahrscheinlich, daß er mit seinem Bruder ausführlich über die Gemütslage eines Seemanns gesprochen hat. der für diesen Beruf zu sensibel und deshalb wahrscheinlich überhaupt nicht geeignet war. Es ist anzunehmen, daß die Idee zur Novelle aus diesem brüderlich freundschaftlichen Verhältnis heraus entstanden ist. Umso mehr als in die Handlung auch das Elternpaar Ganghofer mit einbezogen ist, der Vater in seiner ruppigen und doch menschlichen Strenge und die Mutter als das betuliche »Sorgenhaferl«, wie sie uns im »Lebenslauf eines Optimisten« so anschaulich entgegentreten. So ist aus all diesen Ingredienzien aus Natur, feinfühlender Menschenbeobachtung und realem Hintergrund eine literarische und dennoch volkstümliche Kostbarkeit entstanden, der es gelingt, über das Ende der Lektüre hinaus die Leser noch lange und nachhaltig zu bewegen."Stefan Murr"
[Auszüge aus dem Buch]
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